Griechen und Deutsche gehen bei ihren alltäglichen Erfahrungen und ihrer Betrachtung der Welt von sehr unterschiedlichen und zum Teil sehr lückenhaften Geschichtsbildern aus. Was wissen Deutsche vom antiken Griechenland außerhalb von Athen, von den griechischen Siedlungsgebieten außerhalb von Griechenland, vom tausendjährigen christlichen Römerreich von Byzanz oder gar von der türkischen Herrschaft im südlichen Balkan? Auch im griechischen Schulunterricht werden manche Perioden (Römerzeit, Byzanz, türkische Herrschaft) teils stiefmütterlich behandelt. Dabei hat die moderne Geschichtsforschung durchaus mehr Ergebnisse zutage gefördert, als ein nationalstaatlich begrenzter Blickwinkel zuläßt. Mit dieser Vortragsreihe soll - unseres Wissens erstmals - versucht werden, im Rahmen eines kulturgeschichtlichen Vergleiches die historischen Erfahrungen von Griechen und Deutschen diesseits und jenseits der jeweiligen staatlichen Gebilde zusammenfassend darzustellen, wobei alle für beide Völker wichtigen Epochen annähernd gleich gewichtet werden sollen. Neben der politischen Geschichte soll auch die siedlungs-, alltags- und kulturgeschichtliche Aspekte miteinbezogen werden.
I. Hellas und Germanien: Dem ersten Aufblühen von Hochkulturen auf europäischem Boden (Kreta, Mykene und die griechischen Stadtstaaten der klassischen Zeit) kann die germanische Bronze- und Eisenzeit nur flächendeckende, dünn besiedelte Urwälder entgegensetzen.
II. Im Römischen Weltreich: Mehr als ein halbes Jahrtausend bestimmte das Römische Weltreich (Imperium Romanum) die Geschicke der Antiken Welt. Griechenland und Teile Germaniens gehörten Jahrhunderte lang als Provinzen zu dieser Supermacht, deren östliche Hälfte stets griechisch, die westliche lateinisch geprägt war.
III. Byzanz und das Abendland: Das Jahrtausend des christlichen Mittelalters hat in Ost und West sehr unterschiedliche Strukturen hervorgebracht: Während im griechisch beeinflußten Südosteuropa und Kleinasien sich antikes Leben in ununterbrochener Tradition fortsetzte, entstanden nach Jahrhunderte langer Völkerwanderung in Mittel- und Westeuropa neue staatliche Gebilde. Beiden Kulturkreisen gemeinsam ist eine Verlagerung nach Norden nach dem Verlust Afrikas an den Islam.
IV. Türkenherrschaft und Frühe Neuzeit: Seit dem 11. Jahrhundert drangen verschiedene türkische Völker in bisher griechisch besiedelte Räume in Kleinasien vor. Da die Europäer die Griechen im Stich ließen, fielen im 15. Jahrhundert die griechischen Kerngebiete in türkische Hände (Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 1453). Während in West- und Mitteleuropa durch den Rückgriff auf die Antike (Renaissance) und die Besinnung auf die Fähigkeiten des Individuums die Neuzeit begann, litt die griechische Bevölkerung unter der türkischen Herrschaft; die griechische Identität wurde durch die orthodoxe Kirche bewahrt.
V. Nationalstaaten und Demokratisierung: Es bedurfte der Aufklärung weiterer bürgerlicher Kreise, um die aus dem Mittelalter überkommene hierarchische Herrschaftsform ("Ancien Régime") durch ein demokratischeres Gemeinwesen abzulösen. Nach der neuen Idee der Nation sollte von nun an ein Volk in einem Staat leben. Zwar erhoben sich Deutsche und Griechen erfolgreich gegen die Fremdherrschaft (1813 und 1821), bei beiden erwies sich die Bildung eines Nationalstaates aber als besonders schwierig: Die Entscheidung für die "große" oder "kleine" staatliche Lösung bescherte beiden Völkern in zwei Jahrhunderten eine Reihe nationaler Katastrophen. Der Demokratisierungsprozeß in Politik und Alltag zeitigte in beiden Ländern erst in den letzten Jahrzehnten erfreuliche Fortschritte